Chakana

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Freitag, 30. Juli 2010

Das Gute Leben als indigenes ethisches Konzept

Bei der ersten Weltkonferenz der Völker zu Klimawandel und den Rechten der Mutter Erde vom 20.-23.4. 2010 in Cochabamba/Bolivien haben die rund 35.000 Teilnehmer zusammen mit dem bolivianischen Staatspräsident Evo Morales in ihrer Abschlusserklärung „Vereinbarung der Völker“ der Weltöffentlichkeit ein neues Entwicklungsparadigma vorgeschlagen: Vivir bien (Gut leben), das auf den Kenntnissen, Praktiken und der Weisheit der indigenen Völker Lateinamerikas fußt. Dieses Konzept wurde in den vergangenen Jahren sowohl in der ekuatorianischen (2008) wie in der bolivianischen (2009) Verfassung verankert.

Wer allerdings genauer erfahren will, was sich hinter dem indigenen Vivir Bien verbirgt, wird nicht so leicht fündig. Das ist im wesentlichen begründet in der praktisch ausschließlich oralen Tradition der indigenen Völker Lateinamerikas, die bis heute nur zu wenigen Veröffentlichungen führt. Gleichzeitig gibt es jedoch Versuche der bolivianischen Regierung, dieses Vivir Bien in Leitlinien für öffentliche Politiken zu übersetzen.

Einige Stichpunkte zu Vivir Bien in der andinen Kosmovision :

 Vivir bien (gut leben) und nicht: Vivir mejor (besser leben): Das Gute Leben richtet sich explizit gegen die Konzepte des Desarrollismus und eine Zielvorstellung von Fortschritt und ständigem Wachstum des Bruttoinlandsproduktes. Der Kapitalismus wird abgelehnt.
 Ziel ist vielmehr das harmonische Zusammenleben mit der Mutter Erde (Pachamama) und allen ihren Teilen.
 In dieser Harmonie werden nach der andinen Kosmovision die Widersprüche und Gegensätzlichkeiten nicht aufgelöst, sondern in einer existentiellen Spannung und Gleichgewicht gelebt und die Pluralität erhalten. Beispielhaft wird dies im rituellen Kampftanz des T'inku dargestellt.
 Dadurch wird eine dualistische Weltsicht überwunden: Gegensätze müssen nicht unterworfen oder ausgeschaltet werden, sondern werden integriert. Kompetitivität zwischen zwei Akteuren wird nur zum Wohl eines Dritten praktiziert.
 Das gesellschaftliche und kosmische Zusammenleben ist geprägt von den Prinzipien der Relationalität, Komplementarität und Reziprozität.
 Vivir bien sucht den Konsens unter allen Mitgliedern der Gemeinschaft und will damit die Nachteile der Demokratie überwinden. Das andine Regierungsverständnis geht von rotativen Autoritäten aus und der Sozialkontrolle durch die Gemeinschaft.

Allerdings sind viele dieser Elemente in Diskussion und durchaus umstritten. Zudem gibt es bisher nur in wenigen Punkten eine positive Formulierung der zentralen Aussagen, die sich vor allem gegen die westlichen Entwicklungs-vorstellungen richten.
Es handelt sich zudem um eine bisher nicht durchdeklinierte Verbindung religiös-spiritueller indigener Vorstellungen und aktueller Regierungdoktrin.

Trotzdem erscheint es lohnenswert, dieses Konzept des vivir bien in seinen Umrissen und Kernpunkten kennenzulernen, auf innovative Beiträge zur Diskussion der Entwicklungsethik hin zu befragen und mit christlicher Sozialethik ins Gespräch zu bringen.